Gemeinsam gegen Rollenverteilung und Gewalt
„Kein Wunder, dass sie angegrabscht wurde, bei dem Outfit…“ Unerwünschte sexuelle Anspielungen, ungewollte Berührungen oder im schlimmsten Fall eine Vergewaltigung – sexuelle Gewalt hat viele Facetten. Was die verschiedenen Taten verbindet und warum das Äußere nie Übergriffe rechtfertigt, erfährst du hier.
Otis versucht, seine Freundin Lilia auf der Straße zu küssen. Sie dreht mehrmals ihren Kopf weg, weil sie gerade nicht möchte. Er tut es trotzdem, indem er Lilias Kopf festhält. Auch wenn es hart klingt: Das ist sexuelle Gewalt. Egal ob Otis und Lilia ein Paar sind oder nicht. Wie auch in diesem Fall ist sexuelle Gewalt immer eine Grenzüberschreitung mit einem sexuellen Bezug. Sexuelle Gewalt ist nicht gleich Vergewaltigung. Sie kann sich verbal zeigen, also durch Kommentare zum Aussehen oder zur sexuellen Identität und durch körperliche Grenzüberschreitung wie Angrabschen oder eben unerwünschte Küsse. Sie kann auch im Internet stattfinden, durch Kommentare oder das unerwünschte Verschicken von intimen Bildern. Vor allem Mädchen und Frauen erleben sexuelle Gewalt, während meist Jungen und Männer sie ausüben.
Gesellschaftliche Erwartungen an Jungen und Mädchen
Jahrhundertelang waren Frauen nur als Mütter und Ehefrauen wichtig. Sie durften nicht wählen, nur mit Erlaubnis ihres Mannes einen Beruf ausüben und konnten sich nicht scheiden lassen. Diese Umstände machten Frauen abhängig. Auch im Sexualleben hatten Frauen kein Mitspracherecht: Sie waren zum Kinderkriegen da und sollten die sexuellen Bedürfnisse ihrer Ehemänner befriedigen – bis 1997 galt in Deutschland Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftat!
Obwohl sich Frauen seit über 100 Jahren immer mehr Rechte erkämpfen, betrachten viele Menschen Frauen noch als weniger wert und abhängig vom Mann. Das betrifft auch Sexualität: Es gilt als normal, dass Jungen sich in der Pubertät für Sexualität interessieren. Dass sie plötzlich einen Ständer kriegen, masturbieren und Lust auf Sex haben wird toleriert. Mädchen hingegen gesteht man weniger zu, dass sie Lust auf Sex haben und masturbieren. Während männliche Sexualität als normal, triebgesteuert und aktiv gilt, betrachtet man weibliche Sexualität oft als Ergänzung zur männlichen, und dadurch als weniger ausgeprägt und passiv.
Dass weibliche Sexualität genauso stark und die Geschlechtsteile Vulva und Vagina nicht nur für eine Schwangerschaft, sondern auch für sexuelle Befriedigung da sind, ist selten Thema. Obwohl mittlerweile Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist, gelten Frauen und Mädchen in heterosexuellen Beziehungen oft als „frei verfügbar“ für ihren Freund oder Mann. Sexuelle Gewalt geht oft von aktuellen oder Ex-Partner*innen aus und auch sonst kennen sich häufig Täter*in und Opfer – anders als in Filmen, Büchern oder sogar Zeitungen dargestellt.
Nein heißt Nein!
Selbst wenn Frauen oder Mädchen Nein zum sexuell offensiven Verhalten von Männern und Jungen sagen, wird das häufig nicht so akzeptiert. Wer kennt nicht den Spruch: „Die tut doch nur so, weil sie überzeugt werden will.“ Als ob man Frauen ja nur „überreden“ müsse. Oder es heißt, Frauen wüssten nicht richtig, was sie wollen – deshalb sei es okay, wenn der Mann für sie entscheide – auch sexuell. Dabei bedeutet Nein in jedem Fall Nein. Das „Überreden“ oder „Durchsetzen“ ist eine Form von Gewalt, wird aber oft nicht so verstanden – von der Gesellschaft nicht, und dadurch auch oft nicht von den Täter*innen oder den Opfern.
Das liegt unter anderem daran, dass uns die weilbliche Sexualität eben als passiv vermittelt wird. Zeigen Frauen und Mädchen also angeblich weniger Eigeninitiative, „muss“ der Mann oder Junge seine Ideen und Wünsche durchsetzen, sonst würde ja nichts passieren. Frauen und Mädchen sind aber nicht passiver. Sie lernen nur häufig nicht, dass ihre Sexualität und ihre Wünsche genauso wichtig sind und wie sie diese ausdrücken können. Wir haben es mit Rollenbildern zu tun, die in den Medien zum Teil immer noch vermittelt werden: Zeitschriften geben etwa Tipps, wie Mädchen attraktiver wirken und welche Sexpraktiken toll für den Partner sind – aber was ist denn toll für sie?!
Sexualität ist keine Einbahnstraße
Mädchen und Frauen sind oft auch Objekte von männlichen Wünschen und Vorstellungen. Besonders deutlich ist das in der Musikbranche: Männer singen oder rappen oft über Frauen und darüber, was sie gern alles mit einer Frau machen würden. Hier ist die Frau nur Mittel zur Befriedigung. Das bedeutet, ihre eigenen Wünsche, Erwartungen und Erfahrungen werden völlig ausgeblendet.
Ein Beispiel: das Lied „Whistle“ von Flo Rida
Der Song handelt davon, wie ihm eine Frau einen Blowjob gibt: „Can you blow my whistle, baby, whistle, baby? Let me know Girl, I’m gonna show you how to do it and we start real slow. You just put your lips together and you come real close”. Obwohl mit dem albernen Wortspiel „blow my whistle“ schlecht getarnt, ist klar, was er will. Wodurch die Frau befriedigt wird, oder ob sie ihm überhaupt einen blasen möchte, ist ihm egal. Stattdessen wird die Frau angeleitet und Sexualität somit zu einer Einbahnstraße, die nur männliche Begierden erfüllen soll.
Männerbilder und Machtmissbrauch
Männlichkeit wird oft gleichgesetzt mit Stärke und Unabhängigkeit. Zu diesem Bild passt nicht der einfühlsame Junge oder der rücksichtsvolle Mann. Jungen lernen oft, ihre Interessen durchzusetzen, statt zuzuhören. Das gilt auch für Beziehungen und Sex. Sexuelle Gewalt ist häufig ein Machtmissbrauch – das Vertrauen oder die Schutzlosigkeit des Gegenübers werden ausgenutzt. Nehmen wir als Beispiel wieder die einjährige Beziehung von Otis und Lilia, beide 16. Für Lilia ist es die erste. Beide möchten gern miteinander schlafen, aber Lilia ist zögerlich. Sie weiß, dass viele Mädchen beim ersten Mal Schmerzen haben, und hat Angst davor. Als sie sagt, dass sie lieber noch warten möchte, ist Otis genervt. Er meint, sie sei langweilig und seine letzte Freundin hatte auch keine Schmerzen beim ersten Mal. Nach einigem hin und her stimmt Lilia zu, obwohl sie sich unsicher fühlt. Sie fürchtet, dass Otis mit ihr Schluss macht, wenn er nicht „bekommt, was er will“. Trotz Otis Versicherung tut ihr das erste Mal weh.
Obwohl Lilia letztlich dem Sex zustimmt, ist der Druck eine Form von Gewalt. Lilia konnte nicht in Ruhe entscheiden, was sie will, sondern das mögliche Verlassenwerden hat sie unter Druck gesetzt. Otis konnte außerdem nicht sicher wissen, ob Lilia Schmerzen haben würde, hat aber seinen Erfahrungsvorsprung genutzt, um sie glauben zu lassen, dass alles ganz easy ist. Warum? Wie befriedigend ist Sex, wenn die andere Person Schmerzen hat und sich unwohl fühlt? Entweder waren Otis Lilias Schmerzen egal oder weniger wichtig als seine Lust. Oder seine Macht über Lilia, als sie seinem Drängen nachgibt, war für ihn befriedigend. Dass er sich durchsetzt, bestätigt die Rolle, die er der Gesellschaft zufolge haben sollte: die des starken, wenig emotionalen Mannes.
Keine Schuld den Opfern!
Bei sexueller Belästigung und Gewalt in all ihren Facetten geht es oft vor allem um die Erniedrigung des Gegenübers, durch die sich der*die Täter*in mächtiger und überlegen fühlt. Selbst wenn Täter*innen einfach nur keinen anderen Weg wissen, ihr Begehren auszudrücken, ist das falsch und keine Rechtfertigung!
Statt zu fragen, was der*die Täter*in erreichen wollte und warum er*sie nicht aufgehört hat, muss oft das Opfer erklären, wie es zu der Situation kam. Dadurch fällt es den Opfern etwa aus Scham oder Angst vor den Reaktionen schwer, über das Erlebte zu reden. „Hast du wirklich deutlich genug nein gesagt? Deine Hose war ja schon sehr kurz, das provoziert“, sind Sätze, die die Betroffenen sich dann anhören müssen. Als ob Kleidung oder ein bestimmtes Verhalten eine Einladung oder Rechtfertigung für Belästigung oder Schlimmeres wären. Sie sind einfach nur schlechte Erklärungsversuche für gesellschaftliche Missstände und die Gewalt der Täter*innen!
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