Auch Jungen sind von sexuellen Grenzverletzungen betroffen
Wenn wir von sexuellen Grenzüberschreitungen sprechen, dann denken wir bei den Opfern meist an Mädchen und Frauen. Das ist nicht ganz falsch, weil diese tatsächlich deutlich häufiger betroffen sind. Allerdings sind Jungen nicht völlig ausgenommen – und die Dunkelziffer dürfte bei Übergriffen auf sie deutlich höher liegen, als bei Mädchen.
Ihr habt bestimmt schon von Frauenhäusern gehört. Dort finden Frauen, die in ihrer Partnerschaft Gewalt erfahren, Hilfe und einen sicheren Zufluchtsort. In Deutschland gibt es außerdem einige Adressen, wo auch minderjährige Mädchen Schutz vor sexuellen Übergriffen oder Gewalt in der Familie und Hilfe bekommen. Doch speziell für Jungen gibt es so etwas nicht. Ist das für diese alles kein Thema, sind sie von solchen Dingen nicht betroffen, brauchen sie niemals Hilfe?
Eine Frage der Erziehung
Tatsächlich sind Mädchen häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen, als Männer und die Täter sind meistens männlich. Der Grund für diese Verteilung liegt zu einem Großteil in unseren Rollenbildern begründet und darin, was uns in der Kindheit mitgegeben wird. Da Jungen immer noch anders erzogen werden als Mädchen, steht für sie später oft Stärke und Macht im Vordergrund. Dominanz wird als männlich angesehen, während Mädchen eher als passiv und zurückhaltend gelten – oder eher: zu sein haben. Denn das ist es, was die Gesellschaft von ihnen immer noch erwartet.
Damit wird Jungen also vermittelt, sie müssten ständig ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, und Mädchen, sie sollten immer nur Lächeln und sich nicht beschweren. Das klingt etwas überspitzt, aber der gesellschaftliche Druck ist da und zeigt sich bei beiden Geschlechtern auf unterschiedliche Weise. Das sorgt auch für eine deutliche Täter-Opfer-Verteilung bei sexuellen Grenzüberschreitungen: Männer tendieren eher zu Übergriffen, während Frauen diese ertragen müssen.
Mädchen: ein Drittel von körperlichen Übergriffen betroffen
Das zeigt sich schon im Jugendalter. Für die SPEAK!-Studie 2017 haben Forscher mehr als 2.700 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren in Hessen zu ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt befragt. Während rund 30 Prozent der befragten Mädchen angaben, bereits gegen ihren Willen mindestens „angetatscht“ worden zu sein, gaben das nur fünf Prozent der Jungen an. Auch haben knapp 11 Prozent der befragten Mädchen schonmal erlebt, zum Geschlechtsverkehr gedrängt oder gezwungen worden zu sein, während bei den Jungen nur etwa ein Prozent betroffen waren.
Doch was ist mit diesem einen Prozent? Selbstverständlich können solche Erfahrungen für alle Geschlechter schrecklich sein und für alle ist es schwer, sich Hilfe zu suchen. Aber für die nicht so häufig betroffenen Jungen wird es durch den gesellschaftlichen Druck noch schwieriger. Die bereits erwähnten Erziehungsmuster führen mitunter zur sogenannten „toxischen Männlichkeit“, zu einer Vorstellung vom männlichen Geschlecht, die viele Probleme mit sich bringt – für Frauen und für die Männer selbst.
Toxischer Männlichkeit – was ist das denn?
Unter „toxischer Männlichkeit“ versteht man problematische Verhaltensmuster, denen sich Männer aufgrund von Erziehung, gesellschaftlichen Normen und Verbreitung in den Medien verpflichtet fühlen. So kann der Druck entstehen, Männer müssen immer stark sein und sollten das auch möglichst oft zum Ausdruck bringen. Emotionen sollten sie nicht zulassen, sondern unterdrücken. Männer weinen nicht, das ist Frauensache. Kurz gesagt: Männer haben Machos, Macker, frauenverachtende Arschlöcher zu sein – so wird es ihnen scheinbar vermittelt .
Jungen neigen durch diese falsche Vorstellung von Männlichkeit nicht nur zu mehr Gewalt, sie trauen sich auch oft nicht, sich selbst als Opfer anzuerkennen. Sich Hilfe zu suchen, wird als das Gegenteil von stark und männlich empfunden. Anstatt sich „schwach“ zu zeigen, wird deswegen lieber geschwiegen.
Nicht der Norm entsprechend?
Während es bei Mädchen eher akzeptiert wird, über Gefühle zu sprechen, sich bei Grenzüberschreitungen zu supporten und Hilfe zu suchen, werden solche Dinge bei Jungen eher unter den Teppich gekehrt. Vor allem wenn die Grenzverletzung von einem Mädchen ausgeht, fällt es Jungen schwer, das zuzugeben. Unsere Gesellschaft drängt sie dazu, mit sexuellen Kontakten anzugeben – ob sie sie nun wollten oder nicht. Da beschwert man sich über unangebrachten Körperkontakt mit Mädchen in der Regel nicht – denn das ist es doch, was „alle“ Jungen „immer“ wollen, oder?
Und wenn sie es eigentlich mal doch nicht wollen, fühlt sich dieses Nicht-Wollen für die Betroffenen irgendwie „falsch“ an und nicht der Norm entsprechend. Sie schämen sich dafür. Da auch der Bekanntenkreis nicht davon ausgeht, dass Jungen sexuelle Belästigung von Gleichaltrigen oder gar Mädchen erleben, wird auch seltener nachgefragt.
Schwul oder was?
Wenn die sexuelle Grenzüberschreitung von einem Jungen ausgeht, kann auch die Angst vor Homophobie – also vor Hass gegen Homosexuelle – eine Hürde sein, sich jemandem anzuvertrauen. Wer als Junge von einem anderen Jungen sexuell angefasst wird, kann Angst kriegen, selbst als schwul angesehen zu werden. Denn auch hier sieht das klassische Rollenbild vor: Männer stehen auf Frauen und wehren jegliche Annäherungsversuche anderer Männer ab. Wer das nicht tut oder nicht schafft, ist schwach und offensichtlich schwul – zumindest ist das die Meinung, vor der Betroffene oft Angst haben. Denn Homosexualität wird unter Jugendlichen noch immer als Beleidigung genutzt. Und das vor allem für Jungen. Während in der SPEAK!-Studie knapp 26 Prozent der Mädchen angaben, auf negative Weise als „lesbisch“ bezeichnet worden zu sein, waren es bei den Jungen, die als „schwul“ bezeichnet wurden, fast 41 Prozent.
Übergriffe sind niemals okay
Ganz davon abgesehen, dass Homophobie in unserer Gesellschaft nichts verloren haben sollte, müssen sich unsere Vorstellungen von Männlichkeit grundsätzlich ändern. Jeder Mensch hat Grenzen, die von anderen respektiert und nicht überschritten werden sollten. Ganz egal, welchem Geschlecht wir uns zuordnen.
Gefühle zuzulassen, erfordert Mut. Nach Hilfe zu fragen, beweist Stärke. Beides zeigt, dass ihr euch der Angst entgegenstellt und die Situation richtig einordnet. Es sind veraltete Rollenbilder, die etwas anderes sagen und die müssen wir hinter uns lassen. Ihr braucht euch niemals für eure Gefühle zu schämen, nicht mal für das Gefühl der Scham selbst! Es ist okay, unsicher und überfordert zu sein. Was nicht okay ist, sind Übergriffe und Grenzverletzungen.
Auch für Jungen: Es gibt Hilfe!
Es ist wichtig, dass sexuelle Grenzüberschreitungen gegen Jungen und Männer kein Tabuthema mehr sind. Kein Junge sollte Angst haben, sich jemandem anzuvertrauen. Glücklicherweise wird bei vielen Hilfsangeboten, wie dem „Hilfetelefon sexueller Missbrauch„, nicht nach Geschlechtern unterschieden. Außerdem gibt es mittlerweile spezielle Hilfsangebote für Jungen und Männer, wie zum Beispiel BasisPraevent. Hier könnt ihr euch ganz anonym beraten und helfen lassen. Denn egal von welchem Menschen sie ausgehen und welchen Menschen sie betreffen – Grenzverletzungen sind niemals in Ordnung!
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